von Ulrich Pohlmann

Ein im staatlichen, städtischen oder privaten Auftrag entstehendes work in progress ist in Deutschland, anders als in Frankreich, Großbritannien oder den USA, ein eher selten zu beobachtendes Phänomen im Bereich der Fotografie. Joachim Brohms Fotografien aus "Areal" das anfänglich den Titel "Areal der Zeit" trug, sind das Ergebnis eines solchen Langzeitprojektes, das die städtebaulichen und strukturellen Veränderungen über einen Zeitraum von zehn Jahren aufzuzeichnen versucht. Gegenstand von Joachim Brohms Untersuchung, die im Jahr 2002 beendet sein soll, ist ein ehemaliges Gewerbegebiet im Norden Münchens, das später einmal als neuer Stadtteil den Namen "Neues Schwabing", "Park-Schwabing" oder "Schwabing am Park" erhalten soll.

Bereits die Namensgebung, wie immer sie nun auch endgültig ausfallen mag, verweist auf die Dimension des historischen Wandels einer Topografie: ein kleiner Vorort, der als "Wahnmoching" (Franziska von Reventlow) nach seiner Eingemeindung Ende des letzten Jahrhunderts zum kleinstädtischen Mekka der europäischen Künstlerbohème neben dem Pariser Montmartre avancierte, zehrt noch heute als modernes Wohn- und Industriegebiet von diesem Mythos der Jahrhundertwende. Der Bedeutungswandel von Schwabing als Synonym für einen Ort des libertinären laisser faire hin zu einem lukrativen Technologie- und Wirtschaftsstandort spiegelt exemplarisch die tiefgreifende Veränderung der modernen Metropolen in den vergangenen Jahrzehnten wieder. Aus der 40 Hektar großen Industriebrache soll ein neues Stadtviertel mit Wohn- und Arbeitsplätzen für mehr als 12.000 Menschen entstehen, das in Autobahnnähe angesiedelt und wenigstens namentlich mit der Aura einer glorreichen Vergangenheit assoziiert werden soll.

Gespenstisch anmutende Steinwüsten und architektonisches Brachland haben den deutschen Großstädten bereits in den 70er Jahren den Ruf der "Unwirtlichkeit" (A. Mitscherlich) eingebracht. Ungefähr gleichzeitig erkannten verschiedene Fotografen wie z.B. Lewis Baltz, dass das traditionelle Genre der Landschaftsfotografie im herkömmlichen Sinne nicht mehr aufrechtzuerhalten sei und die Darstellung der Naturlandschaft durch die Repräsentation von "territory" zu ersetzen wäre. Damit reagierten Fotografen auf die politischen Veränderungen des öffentlichen Raumes in der westlichen Hemisphäre und die Transformationen der Natur. Diese Veränderungen suchte man möglichst in Negation einer allzu persönlichen Handschrift zu dokumentieren. Das Prinzip der nüchternen Spurensicherung hat im Einklang mit dem Interesse am öffentlichen Raum als Schnittstelle von individuellen Lebenswelten und ubiquitärer Information in der europäischen und amerikanischen Fotografie immer mehr an Gewicht gewonnen. Wie verhalten sich nun die moderne Welt der Metropolen, die endlosen Weiten der Peripherie und die unüberschaubaren Industrieareale zum traditionellen Begriff des "Genius Loci" im postindustriellen Zeitalter? Der französische Anthropologe Marc Augé sprach jüngst von den Non-Lieux, den Nicht-Orten - Baustellen, Flughäfen, Bahnhöfen, öffentlichen Gebäuden -, die dem Menschen einzig noch eine Begegnung mit den standardisierten Formen funktionaler Architektur gestatten, das Verlangen nach einer Setzung von Identität aber enttäuschen. Vielfach gestaltet sich das Erscheinungsbild der modernen Metropolen einzig als Kollision und Überlagerung verschiedener Zeichensysteme.

Joachim Brohm, der seit 1993 als Professor für künstlerische Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig lehrt, beschäftigt sich seit nahezu zwei Jahrzehnten als Fotograf mit dem Thema des urbanen Lebensraumes und insbesondere mit den Randzonen, der Peripherie, jenen gesichtslosen anonymen Topografien, die zugleich Zivilisationsprozesse der jüngsten Vergangenheit sichtbar machen, wie das wohl bei kaum einem anderen Thema möglich wäre.

Die Aufnahmen der ersten Jahre von "Areal" versuchen den Ort im städtischen Verbund darzustellen. Nicht nur das Gelände mit seinen Tankwaschanlagen, Betonwerken und Lagergebäuden ist immer wieder in weitgefaßten Standpunkten quasi großflächig erfasst worden, auch die im Hintergrund sichtbaren Gebäude vermitteln so etwas wie den Eindruck einer distanzierten Zugehörigkeit zu einer urbanen Welt. Doch nicht nur das Gelände hat sich im Verlaufe seiner Nutz- und Urbarmachung verändert, sondern auch der Stil, oder besser: der Blick des Fotografen hat sich gewandelt. Nach der Darstellung des Aussenbaus verlegte sich Joachim Brohm auf ausschnitthafte Wiedergaben einzelner Gebäude; die Bildsprache wurde abstrakter, das Interesse an der Strukturwiedergabe wuchs, insbesondere wenn sich der Blick auf den Innenraum richtete.

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Jedes der nachfolgenden Jahre brachte eine andere Annäherung: 1994 wandte sich Brohm vermehrt dem Leben auf dem Gelände zu. Unter diesen Aufnahmen ist besonders hervorzuheben die Ansicht eines Bretterzaunes mit angepinnten Kunstdrucken, dem Arbeitswerkzeug und einigen einfachen Möbeln, was insgesamt einen Pausenraum von Bauarbeitern darstellt. Hier und in anderen Bildern hält uns Joachim Brohm zu sehr präziser Betrachtung an, eine Arbeitsweise, die sicherlich in Walker Evans analytischem Stil ihren Vorläufer kennt, im Vergleich zu Evans aber einen Arbeitsplatz in unserem sogenannten postmodernen Zeitalter zeigt, der zum einen beinahe archaisch primitiv wirkt, zum anderen die private Sphäre als öffentlichen Raum wiedergibt. In vielen Aufnahmen von "Areal" finden wir bereits vertraute stilästhetische Merkmale von Joachim Brohms früheren Arbeiten wie z.B. "Industriezeit" wieder. So ist eine eindeutige Bestimmung von Zeitlichkeit und Örtlichkeit durch den zurückgenommenen Einsatz von Farbe, wie wir ihn aus der amerikanischen Fotografie eines Stephen Shore kennen, und durch die Auflösung definierter Raumordnungen mittels variabler Tiefenschärfe. Gerade die verhaltene, nahezu durchsichtig wirkende Farbwahl unterstützt den Eindruck, daß wir es hier mit einer quasi archäologischen Spurensicherung zu tun haben, die zugleich eine poetische Bestimmung von Zeit und Raum vornimmt.

Joachim Brohms Sicht wirkt beiläufig und distanziert zugleich. Die Motive sind gänzlich unspektakulär, von geradezu banaler Alltäglichkeit. Es handelt sich um spröde Ansichten von bröckelndem Mauerputz, aufgelassenen Werkstätten, Tankstellen, provisorischen Fabrikgebäuden, letztlich verwitterte Überbleibsel/Relikte einer ursprünglichen, heute aber nur noch schwer bestimmbaren funktionalen Nutzung. Die Motive wirken fremdartig und vertraut zugleich. Meist fehlen konkrete Hinweise auf einen Ort oder den Zeitpunkt der Aufnahme, Menschen sind in den Bildern nur durch Spuren ihrer Abwesenheit oder wie Miniaturen gegenwärtig. 

 Wenn man sich als Betrachter auf diese stillen Bilder einlässt, dann reift die Erkenntnis, dass es nicht die Schnelligkeit der Stadt ist, sondern die "Trägheit ihrer Umgebung" (Moritz Küng), die Joachim Brohm abzubilden sucht.Der Fotograf dokumentiert weniger, als dass er das Gesehene interpretiert und seine eigene Wahrnehmung dieser Realität vermittelt. Deshalb ist "Areal" eben nicht nur eine Arbeit über einen Ort sondern über das Medium Fotografie selber, über die konstituierenden Faktoren Zeit und Raum, über das Spannungsfeld von Farbigkeit und Monochromie, Realismus und Abstraktion, und natürlich über die Subjektivität des Fotografen. 

 Die Arbeit "Areal" provoziert auch die Frage, welche Lebensräume einmal auf diesem Gelände entstehen werden. Ich möchte die Prognose wagen, daß sich in der Gegenwart des anonymen Territoriums, das Joachim Brohm in seinen Bildern festhält, er zugleich etwas von der späteren Ortlosigkeit und Bestimmungslosigkeit des Geländes projeziert, das in sich eine der vielen auswuchernden Waben einer Großstadt darstellt, die für sich weder ein eigenständiges urbanes Zentrum bilden können noch eine prägnante Architektur aufweisen werden. 

 Joachim Brohms Projekt "Areal" wird nach seiner Vollendung etwa 300 Aufnahmen umfassen. Dieses visuelle Inventar, ein Gedächtnis von Zeit und Raum, mutet an wie eine Entdeckungsfahrt in ein Niemandsland.